Veganismus – ein linkes Ding

Einführung

Auf die Frage, warum ich vegan lebe, gibt es eine Antwort, die alle anderen Antworten erst ermöglicht. Und obwohl ich selbst und Millionen Veganer:innen der scheinbar unwiderlegbare Beweis für diese Antwort sind, ist sie es, die sich am stärksten der Verleumdung ausgesetzt sieht. Die Antwort: Ich lebe vegan, weil ich es kann.

Aber was ist mit indigenen Gruppen? Was wäre, wenn du auf einer einsamen Insel stranden würdest? Was wäre, wenn du eine Krankheit hättest, die … ? Weder ich, noch Personen, von denen ich Argumente wie diese gehört habe, sind Teil indigener Gruppen oder befinden sich sonst in einer Position, welche tierisches Eiweiß für sie zwingend notwendig macht. Doch es ist eben diese Antwort, die man verleugnen muss, wenn man sich nicht mitschuldig an Tierleid und Umweltzerstörung fühlen möchte. Fleisch essen gilt als „normal“ und obwohl gerade linke Menschen wissen, dass „normal“ alles andere als gut bedeutet und hinter der Normalisierung von Dingen meist kapitalistische Gründe stecken, wird eine „normale“ Ernährung meist kaum hinterfragt oder sogar emotional verteidigt.

Es ist normal, dass sich Frauen um Haushalt und Kinder kümmern, es ist normal, dass sie in schlecht bezahlten Berufen arbeiten (bzw., dass traditionell als Frauenberuf geltende Berufe schlechter bezahlt werden), es ist normal, dass Migrant:innen oder migrantisierte Menschen bei gleicher Leistung schlechtere Noten bekommen, … Dinge zu normalisieren bedeutet Ausbeutung zu legitimieren.

Sexismus legitimiert die Ausbeutung von (cis-) Frauen als schlecht oder sogar unbezahlte Arbeitskraft. Rassismus schafft eine Gruppe von Menschen, die Aufgrund fiktiver Eigenschaften oder vorenthaltener Rechte in prekären Beschäftigungsverhältnissen ausgebeutet werden können.

Speziesismus legitimiert die Ausbeutung nicht-menschlicher Lebewesen und erhält damit ein Konsumverhalten aufrecht, dass ein Vielfaches über einem, auch nur im Ansatz vernünftigem Maß liegt. Ein Konsumverhalten, das Lebensräume und Biodiversität zerstört, den Klimawandel fördert und allein in Deutschland jedes Jahr Milliarden fühlender Wesen das Leben kostet. Ein Konsumverhalten, das im globalen Norden zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen, besonders unter sozial benachteiligten Menschen, und im globalen Süden zu Nahrungsmittelknappheit führt. Vegan zu leben, weil man es kann, sollte Grund genug sein, um nicht-menschliches Leben zu schützen. Doch vegan zu leben schützt nicht nur nicht-menschliches Leben, es schützt unser aller Leben und ist neben Selbstorganisation, Demonstration und Bildung die beste Antwort auf ein System, dass nicht für Menschen produziert, sondern für Profite. Derzeit leiden weltweit etwa 800 Millionen Menschen an Hunger, während wir es schaffen 50 – 80 Milliarden Landtiere zu ernähren. Der Grund dafür, dass sich wenige an dieser Absurdität stören ist ein Marketing, dass uns Fleisch, Milch- und Fertigprodukte als gesund und normal verkauft hat. Eine vegane, ausgewogene, aus Grundnahrungsmitteln bestehende Ernährung, ist nachweislich gesund und klimafreundlicher und wird dennoch nicht aktiv gefördert. Statt auf Vernunft und Wissenschaft zu hören, werden industrielle Landwirtschaft und Fischerei subventioniert. Die Tierindustrie gehört zu den Hauptursachen für den Verlust von Biodiversität, Luft- und Umweltverschmutzung und des Klimawandels und profitiert dennoch, allein in Deutschland, von Subventionen der EU, des Bundes und der Länder in Milliardenhöhe.

Die Tierindustrie – ein Meisterwerk des Kapitalismus

Die Tierindustrie nimmt günstige Rohstoffe und macht daraus profitable tierische Lebensmittel. Aus Mais, Getreide, Raps, Soja, Wasser und anderen werden Wurst, Fleisch und Milchprodukte. Dafür werden Tiere durch Qualtzucht so profitabel wie möglich gezüchtet, Arbeiter:innen ausgebeutet (Beispiel Tönnies) und Landwirt:innen schlecht bezahlt. Umweltzerstörung, Klimawandel, multiresistente Keime, sowie physische und psychische Schäden bei Arbeiter:innen der Fleischindustrie werden als Kollateralschäden in Kauf genommen. Unsere auf tierische, verarbeitete Lebensmittel ausgerichtete Ernährung zählt weltweit zu den größten Krankheitsrisiken. Ein Risiko, das zuallererst einkommensschwache Haushalte trifft.

Veganismus und Tierrechtspropaganda wird oft als Individualkritik abgetan. Wir haben das System nicht verstanden und kritisieren jede:n Einzelne:n für ihr Verhalten. Statt gegen ein System zu kämpfen, das Schuld an Klimawandel und Ausbeutung ist, kritisieren wir Arbeiter:innen die ihr schwer verdientes Geld für billiges Fleisch ausgeben. Und oft tun wir das tatsächlich, denn egal wie wenig Schuld du an dem System hast, dein billiges Fleisch ist nicht nur „etwas“. Es hat gelebt, es hatte Schmerzen, es wurde verstümmelt und getötet. Menschen gar keine Verantwortung für ihre Handlungen zu geben, bedeutet, sie zu entmündigen.

Doch Veganismus ist weit davon entfernt nur Individualkritik zu sein. Es ist per Definition „eine Lebensweise, die versucht – soweit wie praktisch durchführbar – alle Formen der Ausbeutung und Grausamkeiten an leidensfähigen Tieren für Essen, Kleidung und andere Zwecke zu vermeiden“. Eine Gesellschaft, die alle Formen der Ausbeutung und Grausamkeiten an Lebewesen ablehnt, hört sich für mich sehr nach linker Utopie an. Veganismus bedeutet Ausbeutung konsequent als falsch zu benennen, sowohl, wenn sie sich gegen Menschen, als auch gegen Tiere richtet. Veganismus bedeutet zu verlernen, was uns in der Werbung als normal und gesund verkauft wurde. Es bedeutet die Weitergabe von Wissen im Ernährungsbereich wieder in gesellschaftliche, statt kapitalistische Hände zu geben.

Der Volksentscheid zu Deutsche Wohnen enteignen war ein großer Erfolg und dennoch bin ich pessimistisch, ob dieser zur Vergesellschaftung von Wohnraum führt. Und falls doch, dann nur mit Entschädigungen in Milliardenhöhe an Immobilienkonzerne, die sich bereits zur Genüge an menschlichen Grundbedürfnissen bereichert haben. Warum erwähne ich das? Weil, uns vegan zu ernähren, keinen politischen Prozessen unterworfen ist. Uns die Souveränität (den Großteil) über unsere Ernährung zurückzuholen, ersetzt keine Demonstration, keine Selbstorganisation und keine politische Bildungsarbeit. Unsere Ernährung danach auszurichten, welche Konsequenzen sie für Menschen und Tiere hat, ist etwas, das wir nebenbei tun können und dennoch eine der mächtigsten Waffen, die wir derzeit haben.

Ein Fortschritt ist nur dann möglich, wenn es „Toren“ gibt, die glauben gut daran zu tun, wenigstens so weit nach ihren Grundsätzen zu leben, als es ihnen möglich ist.
Clara Wichmann